Saintélyon oder wer traut sich im Dezember in die Hölle der
Nacht?
Am Wochenende lief ich die Saintélyon.
Dieses Rennen, ziemlich unbekannt in Deutschland, ist für
die Franzosen ein echter Klassiker. Man feiert schon stolz die 65. Auflage! 65
Jahre! da hat sich viel geändert… aber eines ist geblieben: man läuft von Saint
Etienne bis nach Lyon, durch eine winterliche Nacht Anfang Dezember. Wer ist
ursprünglich mal auf diese verrückte Idee gekommen und hätte er jemals geahnt,
dass er so viele Follower finden wird? 17500 Laufbegeisterte standen diese Jahr
in den Startlöchern.
Das Event bietet inzwischen neben der Origanalstrecke auch
kürzere Strecken an:
Saintétic:
12km
SaintéSprint:
27km
SaintExpress:
44km
SaintéLyon:
81km
Für das 65. Jubiläum
hatte der Race Director die Originalstrecke noch mit ein paar zusätzlichen
Kilometer und Höhenmetern aufgepeppt: 81km mit
2400hm.
Als Petzl mich Anfang des Jahres zu diesem Rennen einlud,
war ich natürlich heiß auf die längste Strecke. Wenn schon, denn schon: Eine
Reise nach Lyon sollte sich lohnen!
Aus Erzählungen französischer Läufer meinte ich zu wissen,
dass mich ein rollendes Gelände erwarten würde. Die schnellen Siegerzeiten
sprachen auch nicht gerade für technische Herausforderungen…
Die größte Herausforderung würde das Wetter darstellen. Man
muss zu dieser Jahreszeit hier immer mit Schnee, Eis, Wind und Regen rechnen.
Soweit meine Überlegungen zu den Randbedingungen. Ich war zuversichtlich.
Plötzlich war dann der erste Dezember da.
Früh morgens nahm dem Zug über Straßburg nach Lyon. Noch ein
Stück mit der U-Bahn und schon hatte ich meine Startnummer in der Hand.
Bild: SainteLyonKurz vor dem Start in Saint Etienne |
Kurz von der Reise erholen, und dann geht es auch schon mit
einem Bus voller Laufverrückter nach Saint Etienne. Eine riesige Halle erwartet
die 7500 Läufer. Ich kann es nicht glauben: 7500 Verrückte sind wirklich bereit
nachts in der Kälte die Originalstrecke
zu bezwingen!
Kurz nach 23Uhr geh ich in den Startbereich. Zum Glück darf
ich ganz vorne starten! Zusammen mit den Profis…
Bild: SainteLyon |
Es geht pünktlich los! Der Start ist schnell, wir laufen die
ersten 3km unter 4min/km und das trotz Höhenmetern und vollem Rucksack!. Das
Wetter ist eigentlich ganz OK. Leichter Regen, dafür aber nicht kalt.
Die ersten Kilometer sind durchgehend asphaltiert. Das ist
auch gut so bei so vielen Teilnehmern… Ich lasse meine Stirnlampe Nao+ noch aus.
Ab k7 geht es in den Wald. Von der Dürre dieses Sommers kein
Spur mehr, ich bin zwar ganz vorne, aber die Wege sind bereits unglaublich
matschig! Erstes Wegrutschen auf heruntergefallenen Äpfeln, zum Glück ohne
Sturz!
Die Steigungen sind unerwartet steil! Die Bergabpassagen
aufgrund von rollenden Steinen und tiefem Matsch technischer als gedacht… Mir
wird schnell klar, dass es hier unmöglich sein wird einen 5er Schnitt zu
halten…
Bild: SainteLyon Eine Kette von Stirnlampen |
Ab und an drehe ich mich um. Ich bin beeindruckt von dem
Wurm aus tausenden von Stirnlampen. Irgendwie schöpfe ich daraus Energie. Unter
uns sind immer wieder die Lichter in Dörfern zu erkennen. Echt schön.
Erstaunlich schnell erreiche ich die erste Verpflegung. 19km
sind geschafft. Mir geht’s noch gut.
Es geht weiter durch die Nacht. Weiter bergauf. Ein bissige
Wind lässt uns nicht mehr in Ruhe. Dazu kommt Schneeregen. Ich beiße die Zähne
zusammen und freue mich immer wieder wenn wir in den Schutz eines Waldstückes
kommen. Dabei bedeutet Wald knöcheltiefen Matsch…
Meine Hüftmuskeln werden langsam müde. Der Trainingsmangel im
Gelände macht sich bemerkbar. Nächstes Jahr viel mehr Höhenmeter in steinigem
anspruchsvollem Gelände! Ich bin so langsam und fühle mich so schwach, dass ich
ans Aufgeben denke. Gehpausen kommen aber nicht in Frage, dafür ist es zu kalt!
Ein sehr technisches Downhill (meine Meinung nach der härteste der Strecke) und
ich bin am VP2.
Ich sehe die Busse. Ich könnte einfach einsteigen: Hop in
die Wärme! Mein Po tut so weh! Es fühlt sich an wie eine Zerrung. Aber dann
erinnere ich mich: wolltest Du nicht die steilste Steigung des Rennens sehen?
Wolltest Du nicht das Gefühl die höchste Spitze des Rennens erklommen zu haben,
erleben?… Mental bin ich wieder im Rennen. Ich laufe zur nächsten Verpflegung…
17km.
Bild: SainteLyon |
Es regnet heftig. Der Wind ist so kalt, dass meine linke
Wange fast abfriert!
Der höchste Punkt wird nur im Vorbeilaufen gewürdigt, zu
kalt. Wir rasen runten und verpasse im Downhill eine Kreuzung… 500m (und 100hm)
tiefer heißt es umdrehen und wieder hoch! FUCK!!!
Nun ist es endgültig entschieden: Ich gebe am nächsten VP
auf!
Hoch, runter, hoch runter und plötzlich nirgendwo… Wir sind
in tiefem Nebel. Und ich dachte immer bei starkem Regen gibt es keinenNebel! In
Frankreich schon! Wir sehen gar nichts mehr. Die Sichtweite liegt unter 3m… Aufpassen,
höchste Konzentration! Ich weiß nicht mehr wie, aber irgendwann komme ich zur
3. Verpflegung. Keine Busse. Keine einfache Möglichkeit auszusteigen… Ich sitze
2min auf einer Bank. Esse meinen Riegel. Allein im Regen. Dann steh ich auf und
laufe weiter… Wohin, warum? Kein Plan! Einfach weiter.
Bild: SainteLyon so habe ich die Strecke nicht gesehen |
Die Läufer schweigen alle, alles Zombies… Bis auf einer. Wir
fangen an zu plaudern.
Er ist zum sechsten Mal dabei. Nie war es so hart. Aber ab
der nächsten Verpflegung soll es einfacher werden… OK ich bin gewarnt…
Irgendwann war ich an der nächsten Verpflegung. Es ist immer
noch Stockdunkel.
Ich will immer noch aussteigen. Also wieder 2min auf die
Bank setzen, dieses Mal im Trockenen in einer Halle. Riegel essen. Hirn aus und
weiter…
Bild: SainteLyon, so sahen die "Wege" aus |
Schlamm Schlamm und noch mehr Schlamm. Ich freue mich über
jede kleine asphaltierte Passage. Normalerweise hasse ich Asphalt.
Immer wieder begegnen wir mittem im Wald Zuschauern. Die
Füße tief im Matsch feuern sie uns unermüdlich an. Das verblüfft mich immer
wieder: „Leute was macht ihr da? Seid ihr verrückt???“ Die Antwort wundert mich
noch mehr: wir sind für euch da, ihr seid Helden, was IHR schafft, ist bewundernswert…
Für mich sind sie die Außerirdischen. Diese Begegnungen
erinnern mich daran warum ich laufe. Ich laufe für diejenigen, die nicht laufen
können. Ich laufe um genau solche Leute zu entdecken und Freude zu teilen…
Jetzt weiß ich es: Ich werde heute Finisher.
An der letzten Verpflegung stelle ich mir keine Fragen mehr.
Ich weiß, dass ich bis zum Ziel laufen will. Es geht wieder hoch. Matsch, was
sonst. Ein Schritt nach vorne bedeutet einen halben Schritt zurück. Dann runter
durch einen Bach. Klar, wir müssen unsere Scuhe sauber machen, bevor es nach
Lyon reingeht. Dann endlich kommt das Schild „5km to go“! 5 ist nichts!!!
Nichts mehr, 4k, 3k. es geht über Treppen steil hinunter! 2km. es ist nur noch
flach. Ich kann endlich die Lampe ausschalten (mein Akku hat die komplette
Nacht durch gehalten), 1k. ich bin an der Halle, 0 Ich bin Finisher…
Ziel!!! |
Ich reiß die Arme hoch in den Himmel: ich habe es geschafft.
Man war es hart. Ich kam nach Lyon um einem entspanntes Jahresabschluss zu erleben,
es war ein Höllentrip. Die Tränen der Erleichterung fließen.
Ich erhalte meine hochverdiente Medaille. Hole meine Sachen
und ziehe erst mal die Schuhe aus… meine Füße sind nur noch Wunden… Schnell
umziehen und hop zum Zug…. Um 15:30 bin ich wieder in Karlsruhe… einige sind
noch unterwegs… Duschen, essen, schlafen… das ist das einzige was ich noch
schaffe.
PS: Eine Reise nach Lyon ist aus Deutschland nicht besonders
kompliziert (und teuer):
Flug nach Lyon und dann Shuttle zum Bahnhof Part-Dieu und
U-Bahn,
Zug direkt von Stuttgart oder Frankfurt und U-Bahn.
Von dem Eventhalle bis zum Start gibt es Shuttlebusse.
Zurück nach Lyon läuft man einfach ;-)
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